Les Demoiselles d’Avignon

„Les Demoiselles d‘Avignon“ – „Die Fräulein von Avignon“ – ist ein 243.9 x 233.7 Zentimeter großes Gemälde von Pablo Picasso. Das 1907 gemalte Bild ist seit 1939 Teil der Sammlung des Museum of Modern Art (MoMA, Inv.-Nr. 333.1939) in New York. Heute gilt es als eines der wichtigsten Werke des frühen 20. Jahrhunderts. Zum einen verzichtete Picasso auf eine Bilderzählung, zum anderen nutzte er im Sommer 1907 eine eckige Formgebung, wodurch die „Demoiselles d‘Avignon“ zu Wegbereiterinnen des Kubismus wurden. Die Verzerrung der Proportionen als auch die maskenhaften Gesichter, in denen Picasso afrikanische, ozeanische und iberische Einflüsse verarbeitete, können als proto-kubistisch, expressiv und „primitivistisch“ bezeichnet werden. Der Künstler erarbeitete sich das Werk über mehrere Monate zwischen Herbst/Winter 1906 bis zum Frühsommer 1907, indem er knapp 600 Arbeiten auf Papier und etwa vier Ölskizzen anfertigte.

„Tag und Nacht zeichnend, belebt er, was abstrakt, und verdichtet, was konkret ist.“1 (André Salmon über Picasso)

Bildbeschreibung

„Les Demoiselles d‘Avignon“ ist ein großformatiges, doubliertes Gemälde, in dem Picasso fünf nackte oder spärlich bekleidete Frauen auf einer schmalen Raumbühne zeigt. Vier von den überlebensgroß dargestellten Frauen stehen, eine sitzt im Vordergrund. Einzig die linke Gestalt trägt einen rosafarbenen, lang herabfallenden Schleier. Die Frauenakte füllen die Bildfläche nahezu zur Gänze aus. Die zentrale Figure hat beide Arme erhoben, die links neben ihr Stehend hebt einen Arm und hält mit dem anderen ein Tuch vor ihre Scham. Die Kopfdrehung des breitbeinig hockenden Rückenaktes ist organisch kaum nachvollziehbar. Alle Figuren haben auffallend starre, weit aufgerissene Augen; die beiden Frauen rechts sehen aus, als ob sie Masken trügen. Die von links zur Gruppe stoßende Figur wirkt ebenfalls vermummt.

Die drei Frauen in der Mitte der Komposition blicken unverwandt aus dem Bild heraus. Die beiden flankierenden Figuren links und rechts außen wenden einander halb zu und ziehen den Vorhang zurück, links dunkelrote und rechts blaue Draperien. Einige Stoffe und das vorn aufragende Tischchen mit Früchten ergänzen die Figurengruppe.

Das Kolorit des Gemäldes ist in Hautfarbe, Graublau (Hintergrund/Zwischenstücke) und Rotbraun (Vorhang) gehalten. Hautfarbe und Blautöne sind objektbezogen eingesetzt, allerdings wirkt der Farbeinsatz archaisch. So unterscheidet Picasso die einzelnen Frauen durch ihre Tönung. Das Graublau der Zwischenstücke bzw. des Hintergrundes entlehnte Picasso den Werken El Grecos aus dem Besitz von Ignacio Zuloaga, um ihm die Festigkeit eines Körpers zu verleihen.2 Dieser Eindruck wird noch von den farbigen Konturen in Weiß, Schwarz, Braun und Blau unterstrichen. An vielen Stellen wurden sie erste im Nachhinein aufgetragen.

Titel

André Salmon gab dem Bild den Titel, unter dem es heute bekannt ist: „Les Demoiselles d‘Avignon“; ein weitere Vorschlag wollte das Werk „Le bordel philosophique“, auf Deutsch „Das philosophische Bordell“ oder „Die Philosophie des Chaos“, bezeichnen. Die Titel beziehen sich auf einen privaten Scherz Picassos oder einem seiner Freunden, die von einem stadtbekannten Bordell in der Carre d'Avinyó in Barcelona geträumt hätten. Der junge Picasso wohnte in der Nähe und kaufte sich in dieser Straße sein Papier und seine Wasserfarben.3 Allerdings konnte jüngst nachgewiesen werden, dass sich in der Carrer d’Avinyó kein Bordell befunden hatte.4 Dies verleiht dem Ausbruch Picassos vor dem Fotografen Roberto Otero besondere Aktualität:

„Das Schlimmste ist, dass, wenn ich dazu gefragt werde und sage, dass dies nicht der Wahrheit entspricht, [fuhr Picasso fort,] dann behaupten die Leute weiter, dass [die demoiselles] Mädchen aus einem Bordell in der Carrer d’Avinyó sind. In Wahrheit wurde diese Geschichte, wie anfangs jeder wusste, von Max Jacob oder André Salmon oder irgendeinem anderen Freund aus unserer Gruppe erfunden – es ist egal, von wem [tatsächlich war es Salmon] – und stellte eine Anspielung auf eine Großmutter von Max dar, die aus Avignon stammte, wo auch seine Mutter eine Zeitlang lebte […] Wir sagten zum Spaß, dass sie dort ein maison de passe besäße […] Das war, wie so viele andere, eine erfundene Geschichte.“5

Pablo Picasso zeigt mit „Demoiselles d‘Avignon“ eine Gruppe von imaginären Sexarbeiterinnen, wie sie sich dem Publikum erwartungsvoll präsentieren. Und doch bleibt es in seiner umfänglichen Bedeutung gänzlich hintergründig. Anfangs hatte der Maler an den sehr direkten Titel „Le Bordel d‘Avignon“ gedacht. Erst im zweiten Anlauf konnte der Maler für sein Werk einen passenden Titel finden, indem sich die „Fräulein von Avignon“ jene Straße in Barcelona beziehen. Später lehnte er den Titel ab.6

Stil und Raumdarstellung

Das knapp hochformatige Bild überrascht stilistisch durch die gebrochenen und abgewinkelten Konturen. Picasso ersetzte viele Rundungen, durch eckige Formen. Ebenso füllte er den Raum bzw. die Fläche zwischen den Figuren mit eckigen Flächen. Dadurch wirken sie noch weniger zusammenhängend. Diese Zerstörung der Form empfand Picasso als produktiv, was durch das Weltbild Friedrich Nietzsches vorbereitet worden war. Der Künstler konnte deshalb resümieren:

„Früher näherten sich die Bilder ihrer Vollendung stufenweise. Jeder Tag fügte etwas Neues hinzu. Ein Bild war das Ergebnis von Ergänzungen. Bei mir ist ein Bild eine Summe von Zerstörungen. Ich mache ein Bild und dann zerstöre ich es. Aber am Schluss der Rechnung ist nichts verlorengegangen: Das Rot, das ich an einer Stelle weggenommen habe, befindet sich nun anderswo […] Ein Bild ist niemals vorausfixiert; während man daran arbeitet, folgt es der Beweglichkeit des Gedankens.“7 (Picasso 1935)

Die im Vordergrund aufragende Tischplatte mit Früchten leitet kompositorisch in die Szene ein. Gleichzeitig fasst Picasso hier sein Formrepertoire programmatisch zusammen: Anstelle den Raum dreidimensional zu konstruieren oder farbig durch Licht-Schatten-Modellierung zu illusionieren, betonte Picasso die Fläche. Dadurch wirken auch seine weiblichen Akte wie Figurinen, die auf der vorderen Bildebene aufgereiht stehen. Die Flächen zwischen den Damen geben ebenso wenig Aufschluss über den Raum, in dem sie sich befinden.

Seinem künstlerischen „Vater“, dem Maler Paul Cézanne, verdankte Picasso die Überzeugung, man soll „die Natur mit dem Zylinder, der Kugel und dem Kegel bearbeiten“8. Davor hatte noch André Derain im großformatigen Ölgemälde „Badende“ (1907, MoMA) eine höchst direkte und vom zeitgenössischen Publikum als „obszön“ empfundene Version von Cézannes Lieblingsthema gemalt, die sich durch die Konstruktion der Körper auszeichnet. Das ein Jahr zuvor entstandene Derains zeigt bereits bewusst „primitive“, im Sinne von „einfache“ und „exotische“ Akte.

Vor allem die Gesichter überarbeitete Picasso im Stil von iberischen Skulpturen bzw. Masken aus Subsahara-Afrika. Schmaler Mund und die breite, bogenförmige, mit einem Steg versehene Nase fallen besonders auf. Der Spanier dürfte bereits seit der Weltausstellung 1900 afrikanische und asiatische Masken gekannt haben. Ab 1905 wandten sich seine Freund und Matisse der Kunst der kolonialisierten Völker zu. 1906/07 griff Picasso deren Gestaltungsmerkmale auf, um sich in der Auseinandersetzung mit Henri Matisse, berühmt für seine farbenprächtigen Gemälde, in Stellung zu bringen. Das Vorbild der von manchen als „primitiv“ beschriebenen Kulturen erlaubte Picasso, die Reduktion der Bildzeichen weiter voranzutreiben als jeder andere in seinem Umfeld. Man darf davon ausgehen, dass er keine spezifischen Artefakte bzw. Kunstwerke zitierte, sondern Anregungen aus Afrika und Ozeanien miteinander verband. Der Künstler selbst sprach immer nur von „art nègre“ und suchte sich von eindeutigen Vorbildern zu distanzieren (→ Picasso war ein Afrikaner!):

„Man spricht immer von dem Einfluss, den die Negerkunst auf mich hatte. Wie das? Gewiss, wir alle liebten Fetische […]. Ihre Formen übten auf mich nicht mehr Einfluss aus als auf Matisse oder Derain. Aber für sie waren die Masken Skulpturen wie alle anderen auch […]. Als ich zum Trocadéro ging, fand ich es abscheulich […]. Aber ich blieb. Ich blieb, denn ich begriff, dass etwas Entscheidendes vor sich ging. Es widerfuhr mir etwas. Die Masken waren nicht Skulpturen wie die anderen auch. Keineswegs. Es waren magische Dinge. Die Negerstücke waren […] gegen alles, gegen ubekannte, bedrohliche Geister. Ich schaute immer noch die Fetische an, und auf einmal begriff ich: Auch ich war gegen alles […] Fetische waren Waffen, sie sollten die Leute vor Geistern schützen, sollten zur Unabhängigkeit verhelfen […]. Die ‚Demoiselles d’Avignon‘ müssen mir an eben diesem Tag eingefallen sein, aber nicht wegen der Formen [dieser Masken]; vielmehr weil dies mein erstes exorzistisches Gemälde war […].“9

Freunde Picassos, allen voran Max Jacob, sahen eine direkte Verbindung von der Kunst Afrikas zu Picassos revolutionärem Bild:

„An einem Donnerstagabend aßen wir am Quai Saint Michel (bei Matisse), Salmon, Apollinaire, Picasso und ich. […] Da nahm Matisse von einem Möbel eine Statuette aus schwarzem Holz und zeigte sie Picasso. Das war die erste Negerskulptur. Picasso hielt sie den ganzen Abend in der Hand. Am anderen Morgen, als ich ins Atelier kam, war der Boden mit Blättern von Ingrespapier bestreut. Auf jedem Blatt eine große Zeichnung, fast immer die gleiche: ein Frauenkopf mit einem Auge, einer überlangen Nase, zusammengezogen mit dem Mund, einer Haarlocke auf der Schulter. Der Kubismus war geboren. Diese selbe Frau erschien dann auf Gemälden, manchmal u zweien oder dreien. Dann gab es die ‚Demoiselles d’Avignon‘, ein großes Bild wie eine Mauer.“10

Als Alfred Barr 1939 behauptete, dass die „Demoiselles d‘Avignon“ „das Meister von Picassos afrikanischer Periode“ sei, ließ der Maler seinem Biografen Christian Zervos eine Gegendarstellung veröffentlichen. Darin wurde die Bedeutung der iberischen Skulptur zulasten der afrikanischen Kunst hervorgestrichen.11

Bedeutung

Picassos „Demoiselles d‘Avignon“ von 1907 haben viele unterschiedliche Deutungen erfahren. Grund hierfür ist die fehlende Erzählung und die „handlungslose Schaustellung einer unzusammenhängenden Figurenversammlung“12

Der Spanier wählte für sein erstes Meisterwerk ein seit Jahrhunderten gängiges Thema, nämlich den Blick in ein Bordell. Seine Vorgänger in Paris – Edouard Manet, Edgar Degas, Constantin Guys, Theophil Steinlen oder Henri de Toulouse-Lautrec – hatten sich bereits mit der sozialen Misere, dem Reiz des Milieus, die Vertrautheit mit den Damen beschäftigt. Toulouse-Lautrec war knapp zehn Jahre zuvor in ein Freudenhaus eingezogen, um neuartige Bilder aus dem Milieu zu kreieren: Die einfühlsamen Darstellungen des Privatlebens der käuflichen Damen fanden jedoch keine Käufer. Für Baudelaire, den Picasso sehr verehrte, vertrat die Hure „die Wildheit in der Zivilisation“.

Das von Picasso dargestellte Thema zeigt die „Demoiselles d‘Avignon“, wie sie auf ihrer Freier warten. Doch werden die Frauen von Picasso nicht als erotisch anziehende oder auch körperlich abstoßende Personen dargestellt. Stattdessen verwandelt er ihre nackten Körper und Gesichter in starrende Fratzen. Die Aufgabe des männlichen Klienten erscheint wie eine logische Folge.

Das Bild „Les Demoiselles d‘Avignon“ wurde als politisches Manifest oder gar als Programmbild der anarchistischen Antikolonialbewegung verstanden.13 Dem ist entgegenzuhalten, dass Picasso erst im Rahmen des Spanischen Bürgerkriegs (1936/37) als politisch engagierter Künstler in Erscheinung tritt. Außerdem sind keine Äußerungen des Künstlers in Bezug auf Kolonialismus und Völkermord in Afrika überliefert. Stattdessen dürfte sich Picasso – wie viele seiner Zeitgenoss:innen – eine Belebung der als dekadent empfundenen europäischen Lebensweise erhofft haben. Der Künstler nannte die „Demoiselles d‘Avignon“ gegenüber Francoise Gilot und André Malraux sein „erstes exorzistisches Bild“. Damit dürfte er die völlige Ablehnung der europäischen Tradition gemeint haben.

Neben der Auseinandersetzung mit afrikanischer Skulptur und Masken spielte die iberische Skulptur für Picassos Ästhetik eine große Rolle. Die beiden mittleren Figuren der „Demoiselles“ werden manchmal als „iberisch“ bezeichnet. Der Künstler selbst gab den Hinweis, jedoch wird dieser als irreführend abgelehnt. So verweist etwa Klaus Herding in seiner Werkmonografie darauf, dass Picasso damit das „skulpturale Verfahren im Auge [hatte], das er in der rechten Bildhälfte der ‚Demoiselles‘ anwandte“14. Zum einen dürfte sich der Künstler auf altspanische, archaische Skulpturen (5.-3. Jh. v. u. Z.) aber auch die katalanische Wandmalerei der Romanik bezogen haben; letztere wurden gerade wiederentdeckt. Letztere weist ähnliche Formen auf wie sie die Damen zeigen: ovale Kopfform, große Augen und Ohren, selbständige Konturlinien.

Einige Interpret:innen haben die Vermutung angestellt, dass Picasso in den beiden Frauen mit afrikanischen Masken-Köpfen seine „tiefsitzende Furcht, seinen Ekel und […] Ablehnung des weiblichen Körpers“ zum Ausdruck brachte.15 Dem kann man entgegenhalten, dass alle Freundinnen Picassos den Maler zu unzähligen Werken angeregt haben und sein Beziehungsstatus in den Gemälden nachvollzogen werden kann.

Die künstlerische Bedeutung der „Demoiselles d‘Avignon“ kann nicht überschätzt werden! Picasso löste sich mit dem Bild von seinem Frühwerk, das noch vom akademischen Realismus des späten 19. Jahrhunderts und vom Pariser Postimpressionismus, allen voran vom Werk Henri de Toulouse-Lautrecs, geprägt wurde (→ Pablo Picasso und Henri de Toulouse-Lautrec).

Entstehungsgeschichte

Die komplexe Entstehung von „Les Demoiselles d'Avignon“ erstreckte sich von Ende 1906 bis zum Sommer 1907. Der zweite Band von Christian Zervos Katalog „Pablo Picasso, Œuvres de 1906 à 1912“, der 1942 veröffentlicht wurde, zeichnete die Entstehungsgeschichte des Werks nur teilweise nach. Die etwa 600 Zeichnungen, Skizzenbücher, Aquarelle und Pastelle konnten von Zervos noch nicht in eine schlüssige Reihenfolge gebracht werden. Erst Hélène Seckels Ausstellung „Les Demoiselles d'Avignon“ im Musée Picasso in Paris legte im Jahr 1988 die Entwicklungsstadien des Werks endgültig fest.

Im Winter 1906/07 widmete sich Pablo Picasso der Aktmalerei. Zum Teil durch „Lebensfreude“ von Henri Matisse angespornt, zeichnete er Skizzen für eine monumentale Figurengruppe mit Matrosen, die ein Bordell betreten. Ende 1906 war der Maler von einem Gefühl der Unruhe ergriffen, wie sich André Salmon erinnerte:

„Er drehte seine Bilder zur Wand und legte den Pinsel fort. Während langer Tage und Nächte skizzierte er […] Niemals wurde Mühe weniger mit Freuden vergolten, und ohne die vorherige jugendliche Begeisterung nahm Picasso eine große Leinwanderneut in Angriff, bei der er zum ersten Mal seine Untersuchungen anwenden sollte.“16

Von Honoré-Joseph Géry Piéret, Apollinaires Sekretär und vermutlich auch Liebhaber, kaufte Picasso Anfang März zwei iberische Köpfe, die dieser im Louvre gestohlen hatte. Vielleicht hatte sich Géry Pieret während eines Abendessens am 27. Februar bei Picasso dazu aufgefordert gefühlt.17 Im „Kopf des Medizinstudenten“ spiegelt sich das Studium dieser Plastiken im stilisierten, schneckenförmigen Ohr und an den Gesichtszügen. Dieser findet sich auch in der Bordell-Komposition mit sieben Personen: fünf Frauenakte mit einem in der Mitte sitzenden Matrosen und links ein Medizinstudent (vielleicht einen Schädel haltend); auf einer anderen Skizze ist der Matrose nackt, und der Student hält ein Buch.

Während der Konzeption der Komposition machte Picasso viele hundert Skizzen. Sie dienten ihm, die narrative Logik aufzugeben (Totenkopf in den Händen des Studenten als Symbol für die Syphilis), die männlicher Charaktere zu beseitigen und die Position jeder Figur zu verankern. Zu diesem Korpus gehören 16 Notizbücher unterschiedlicher Größe, von denen eines früh gebunden wurde.
Daneben malte Picasso auch eine Reihe von Werken, in denen er sich mit Fragenstellungen der „Demoiselles d‘Avignon“ auseinandersetzte, insbesondere „Akt mit Draperie“. Das malerische Werk Picassos in den Jahren 1906/07 enthält viele verworfene Formeln und nicht verwendete Varianten. Die zentrale Frau in Form einer geometrischen Karyatide gab Picasso beispielsweise ersatzlos auf. Die sitzende Frau links, deren vorderstes Bein horizontal bis zum Knie angehoben ist, wie im Ölgemälde „Sitzender Akt“, entwickelt sich zur zweideutigen Pose, die sie im Gemälde einnimmt. Gleichzeitig gibt ihr Picasso den Stil einer „erhabenen Statue“ an.18 Picasso entwickelte das Ensemble konzentriert weiter, er ersetzte Figuren oder verdichtete die Komposition, bis in den letzten Notizbüchern plötzlich die schraffierten Gesichter erscheinen, die undurchsichtigen Augen, die schrägen Nasen, die den Weg für das eigentliche Gemälde ebnen.

Am Beginn und am Ende der Konzeptphase stehen zwei Arbeiten auf Papier: Das Basler Pastell (Kunstmuseum, 1967.106) steht am Beginn von Picassos Arbeit an der Komposition. Damals hatte Picasso noch daran gedacht, sieben Figuren darzustellen. Das erzählerische Gruppenbild enthält noch zwei Männer, einen Studenten und einen Matrosen als Kunden des Freudenhauses. Danach entstanden die vier einzigen Ölskizzen, die den Gesamtentwurf der „Demoiselles“ festlegen, darunter eine unter dem Stillleben „Töpfe und Zitrone“ von 1907 und unter „Frau mit großem Ohr“.

Durch Derains große „Badende“ (Centre Pompidou, Paris) und Matisses „Blauer Akt (Erinnerung an Biskra)“, die beide ab 20. März 1907 am Salon des Indépendants ausgestellt waren, wurde Picasso weiter angestachelt. Beide Werke wurden von den Steins gekauft.

Die zu den „Demoiselles“ gehörenden Zeichnungen reichen von vereinfachten, verblockten bis zu nahezu geometrisierten Körperdarstellungen; letztere wurden mit ägyptischen Bildsäulen verglichen.19 Ihnen fehlt jegliche Plastizität, stattdessen nutzte Picasso Parallelschraffur, um die Körper vom Hintergrund zu trennen. Sie erinnern in ihrer Statuarik an die Karyatiden Amedeo Modiglianis, die der Italiener fünf Jahre später entwickelte.

Ende April 1907 begann Picasso mit der Arbeit an dem großformatigen Gemälde „Les Demoiselles d’Avignon“. Die endgültige Aquarellstudie in Philadelphia zeigt als einziges bekanntes Werk den endgültigen Zustand mit fünf Figuren. Sie ging der Übertragung auf Leinwand kurz voraus. Der Matrose fehlt nun und der Student wurde durch eine nackte, einen Vorhang hebende Frau ersetzt. Ab Mitte Mai beschäftigte sich Picasso mit Einzelmotiven zu diesem großformatigen Gemälde. Picasso ging zu größerer Schematisierung und eckigeren Strukturen über. Ähnliche Tendenzen werden in „Selbstbildnis“ und „Frauenbüste“ sichtbar. Als sich Picasso mit diesen Fragen beschäftigte, besuchte er im April, Mai oder Juni 1907 das Völkerkundemuseum im Palais du Trocadéro (heute: Musée de l‘Homme), wo er die afrikanischen Skulpturen als „Offenbarung“ erlebte. Der Maler muss bereits im April erstmals in diesem Sammlungsbereich gewesen sein, da er in einem Skizzenbuch (Daix Carnet 10) Einflüsse verarbeitete.20 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich Picasso nicht für Werke aus Sub-Sahara-Afrika interessiert, obwohl Matisse und Derain schon begonnen hatten, sie zu sammeln. Vielleicht hat ein Besuch im Pariser Völkerkundemuseum den Maler dazu angeregt sich im Juni und Juli 1907 mit einem „wilden“ Ausdruck auseinanderzusetzen.

Einen weiteren Einfluss empfing Picasso von der Cézanne-Retrospektive mit 79 Aquarellen in der Galerie Bernheim-Jeune, Paris (17.–29.6.), der auf dem Salon d'Automne eine Gedächtnisretrospektive mit 56 Werken folgte (ab 1.10.). Anfang Juli entstand die endgültige Fassung von „Les Demoiselles d'Avignon“. Laut Penrose füllte Picasso die zweieinhalb Quadratmeter messende Leinwand in wenigen Tagen.21 Picasso übermalte zwei Figuren auf der rechten und eine auf der linken Seite unter dem Einfluss afrikanischer Arbeiten (auch wenn er es später leugnete). Im August 1907 waren die „Demoiselles d’Avignon vollendet“. Kaum hatte der Maler die Arbeit an diesem monumentalen Werk abgeschlossen, erlebte er eine krisenhafte Zeit in seiner Beziehung zu Fernande Olivier. Das Paar trennte sich für drei Monate.

Picasso schuf im September erste Nachträge zu seinem epochalen Werk: „Les Demoiselles: Akt mit erhobenen Armen [Die Tänzerin von Avignon]“ und „Liegender Frauenakt mit Stoffen“.

Reaktionen der Zeitgenoss:innen

Freund:innen und Bekannte sahen das Bild in seinem Atelier, jedoch wurde es erst im Juli 1916 zum ersten Mal im Paul Poirets „Salon d'Antin“ bei der Ausstellung „Art Moderne en France“ ausgestellt. André Salmon gab ihm den Titel, unter dem es heute bekannt ist. Er bezieht sich auf einen privaten Scherz Picassos, der seinen Freunden von einem stadtbekannten Bordell in der Calle d'Avinyo in Barcelona erzählt hat. Picasso lehnte den Titel später ab.

Picassos Freund:innen waren überrascht, betroffen, unsicher bis entsetzte von seinem Werk. Er selbst hielt es als „unvollendet“ zurück und versteckte es bis Anfang der 1920er Jahre sogar vor seinen Bekannten. So bezeichneten seine Freunde die breite, bogenförmige, mit einem Steg versehene Nase als „un nez en quarz de Brie [eine Nase wie ein Viertel Brie]“.22 Ambroise Vollard, Picassos Kunsthändler seit 1901 und Käufer von den meisten Bildern der Blauen und Rosa Periode (4.2.1907), konnte mit dem Bild nichts anfangen, und Félix Fénéon, legendärer Kritiker und Anarchist, kommentierte lakonisch:

„Sehr interessant, mein Junge, Sie sollten sich der Karikatur widmen!“23

Zu den ersten Kommentatoren des Bildes gehört André Salmon. Er schrieb:

„Das Ergebnis der Suche nach dem Ursprünglichen war entmutigend. Von Grazie keine Spur. […] Aktfiguren entstanden, deren Deformation uns kaum noch überraschen konnte. […] Die Hässlichkeit der Gesichter war es vielmehr, die auch die schön halb Überzeugten vor Abscheu vereisen ließ.“24

Im Sommer 1907 lernte Picasso den sehr jungen Kunsthändler Daniel-Henry Kahnweiler kennen, der im Februar eine Galerie in der Rue Vignon 18 eröffnet hatte. Kahnweiler besuchte das Bateau-Lavoir und sah „Les Desmoiselles“. Er sah in dem Bild ein „verzweifeltes, himmelstürmendes Ringen mit allen Problemen zugleich“, von denen der Künstler jedoch keines gelöst habe. Für Picassos Entdecker und Förderer waren die Figuren „wie mit Axtschlägen zurechtgehauen“.25 Dennoch ermutigte Kahnweiler Picasso auf diesem Weg weiterzugehen und kaufte ihm einige aktuelle Bilder ab.

Georges Braque, der Picasso im Oktober oder November 1907 kennenlernte, äußerte sich ebenso wenig verständnisvoll. Für Braque habe der Maler Petroleum getrunken, um Feuer zu speien.26

Selbst Guillaume Apollinaire konnte mit den „Demoiselles d‘Avignon“ anfangs nichts anfangen und strich im Vergleich dazu Matisses Kunstwollen hervor:

„Bei Matisse stehen wir nicht einem maßlos übertriebenen Experiment gegenüber; seine Kunst zeichnet sich dadurch aus, dass sie vernünftig ist.“27

Henri Matisse, der 1905 in der öffentlichen Wahrnehmung zum Anführer des Fauvismus avancierte und damit als der wichtigste Avantgarde-Künstler in Paris galt, lehnte die „Demoiselle d‘Avignon“ rundweg ab. Er begriff in dem Bild eine Verhöhnung der eigenen Malerei und wollte Picasso „fertigmachen [couler]“.28 Picasso fühlte offensichtlich einen großen Konkurrenzdruck. Es dauerte Jahrzehnte, bis die beiden Künstler sich einander annäherten.

André Derain und Georges Braque, beide bis zu diesem Eklat Fauvisten, schlugen sich auf Picassos Seite, da sie nicht beruhigen, sondern Probleme aufwerfen wollten. Dennoch verstieg sich auch Derain zur Aussage, dass dereinst Picasso hinter den „Demoiselles“ erhängt aufgefunden werden könnte.29 Dies gilt als Beleg, dass Picasso auch über Derains Problemstellung weit hinausging.

Erst die Künstler:innen des Surrealismus entdeckten die „Demoiselles d‘Avignon“ und konnte sie würdigen. André Breton konnte seinen Förderer, den wohlhabenden Couturier Jacques Ducet, überreden, die „Demoiselles“ zu kaufen. Die erste Reproduktion des heute als ikonisch bezeichneten Bildes findet sich in der Zeitschrift „Le Révolution Surréaliste“ vom Juli 1925 (Seite 7). Der Weltöffentlichkeit wurde es erst anlässlich der Weltausstellung in Paris 1937 bekannt, wo es im Petit Palais ausgestellt war. Nach dem Tod Doucets wurde es vom Museum of Modern Art angekauft. Das New Yorker Museum trennte sich von einem Reiterbildnis Edgar Degas‘, um den Kaufpreis aufbringen zu können.

„Demoiselles d‘Avignon“ im Museum of Modern Art

1939 erwarb das Museum of Modern Art (MoMA), New York, das Gemälde. Erst dann konnte es in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden und stieg rasch zum „Schlüsselbild“ der Moderne auf.30

Literatur zu Picassos „Les Demoiselles d‘Avignon“

  • William Rubin, Hélène Seckel und Judith Cousins (Hg.), Les Demoiselles d’Avignon. Studies in modern art 3, New York 1994.
  • Klaus Herding, Pablo Picasso. Les Demoiselles d’Avignon. Die Herausforderung der Avantgarde, Frankfurt a. M. 1992.
  • Patricia Leighten, Re-ordering the Universe: Picasso and Anarchism 1897–1914, Princeton 1989.
  • Brigitte Léal, Les demoiselles d’Avignon; carnet de dessins (Ausst.-Kat. Musée Picasso, Paris, 26.1.–18.4.1988) Paris 1988.
  • Les demoiselles d’Avignon, hg. v. Hélène Seckel, (Ausst.-Kat. Paris, Musée Picasso, 26.1.–18.4.1988; Museu Picasso, Barcelona, 10.5.–14.7.1988), Paris 1988.
  • Pierre Daix, Joan Rosselet, Le cubisme de Picasso. Catalogue raisonné de l’oeuvre peint 1907–1916, Neuchâtel 1979.
  • Günter Bandmann. Pablo Picasso. Les Demoiselles d’Avignon, Stuttgart 1965.
  • Roland Penrose, Picasso – Leben und Werk, München 1961.
  • Christian Zervos, Conversation avec Picasso, in: Cahiers d’Art, Bd. 10, Heft 7–10 (1935), S. 37–42.
  1. Zitiert nach André Salmon, La jeune peinture française, Paris 1912, S. 42; André Salmon, L’art vivant, Paris 1920, S. 119.
  2. 1906 veröffentlichte Miguel Utrillo, Picasso Freund aus Barcelona, die erste wichtige Monografie über El Greco. Zuloaga erwarb den El Greco, den er „Öffnung des fünften Siegels“ nannte, im Haus eines Arztes in Córdoba.
  3. Siehe Bandmann 1965, S. 16.
  4. Santos Torroella, 27
  5. 26
  6. Siehe John Richardson. Picasso, S. 31, FN 25
  7. Zitiert nach: Christian Zervos, Conversation avec Picasso, in: Cahiers d’Art, Bd. 10, Heft 7–10 (1935), S. 37–42.
  8. Emile Bernard, Souvenirs sur Paul Cézanne, in: Mercure de France, Jg. 18, Bd. 69 (1.10.1907), S. 385–404.
  9. Francoise Gilot, Life with Picasso, London 1965, S. 251–252, siehe auch Malraux, S. 17–19.
  10. Zitiert nach Bandmann, S. 13.
  11. 52
  12. Klaus Herding, Pablo Picasso. Les Demoiselles d’Avignon. Die Herausforderung der Avantgarde, Frankfurt a. M. 1992, S. 11.
  13. Patricia Leighten, Re-ordering the Universe: Picasso and Anarchism 1897–1914, Princeton 1989, S. 91.
  14. Herding, S. 45.
  15. William Rubin, From narrative to ’iconic’ in Picasso, the buried allegory in Bread and Fruitdish on a Table and the Role of ’Les Demoiselles d’Avignon’, in: The art bulletin, Bd. 65 (1983) S. 615–649, hier S. 629–630.
  16. 11
  17. John Richardson, Picasso, S. 33.
  18. Siehe: Léo Steinberg, in: Brigitte Léal, les demoiselles d’Avignon; carnet de dessins (Ausst.-Kat. Musée Picasso, Paris, 26.1.–18.4.1988) Paris 1988, Bd. 2, S. 332.
  19. Siehe Herding, S. 72.
  20. Siehe John Richardson, S. 37.
  21. Roland Penrose, Picasso – Leben und Werk, München 1961, S. 128 ff.
  22. Pierre Daix, Joan Rosselet, Le cubisme de Picasso. Catalogue raisonné de l’oeuvre peint 1907–1916, Neuchâtel 1979, S. 26.
  23. Zitiert nach Günter Bandmann 1965, S. 3.
  24. André Salmon 1920, 43–51.
  25. Daniel-Henry Kahnweiler, Werkstätten, in: Die Freude. Blätter einer neuen Gesinnung, Burg Lauenstein 1920, S. 17–19.
  26. Daniel-Henry Kahnweiler, 1961, S. 31.
  27. Guillaume Apoliinaire, in: Le Mélange (Dezember 1907); Daix 1988 (IV), S. 148.
  28. Fernande Olivier, S. 73.
  29. Günter Bandmann 1965, S. 4.
  30. William Rubin, Hélène Seckel und Judith Cousins (Hg.), Les Demoiselles d’Avignon. Studies in modern art 3, New York 1994, S. 614.